Europa von oben in der Nacht

Markt   |   07.04.2022

„Jetzt die Reißleine zu ziehen, ist wahrscheinlich die falsche Strategie“

Statt einer neuen Normalität nach Corona bringt die Invasion in die Ukraine neue Herausforderungen für Politik und Gesellschaft. Allvest sprach mit Dr. Hans-Jörg Naumer, Leiter Kapitalmarktanalyse bei Allianz Global Investors, über wirtschaftliche Auswirkungen und die Folgen für Anleger.

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Herr Naumer, 2022 war bislang kein Jahr der Aktie. Verursacht vor allem durch die Invasion der russischen Armee in die Ukraine gab der Dax in der Spitze fast 25 % ab. Danach ging es unter teils heftigen Schwankungen wieder aufwärts, die Volatilität ist bis heute sehr hoch. Wie schätzen Sie die Lage ein? 

Zunächst sollten wir an die Situation in der Ukraine selbst denken und die furchtbaren Auswirkungen, die der Angriff der russischen Armee auf die Menschen im Land hat. Ich hoffe und wünsche es mir sehr, dass wir nun in eine Phase besserer Nachrichten eintreten. 

Die Invasion in die Ukraine dürfte eine Zeitenwende für die gesamte westliche Welt bedeuten. Diese hat naturgemäß die Märkte, insbesondere die Aktienmärkte stark belastet. Auf diese neue Realität werden sich Anleger höchstwahrscheinlich nicht von heute auf morgen einstellen können.

Sehen wir uns diese neue Realität näher an. Welche Wirkungen hat sie auf wirtschaftliche Fundamentaldaten, vor allem auf Preise, Konjunktur und Märkte?

Schon vor der militärischen Eskalation in der Ukraine gab es viele Anzeichen für eine breitere und sich verstetigende Inflation. Diese dürften sich durch stark gestiegene Preise vor allem für Energie und Nahrungsmittel verstärken. Zumindest ist von einer späteren Normalisierung von Preissteigerungsraten auszugehen. 

Durch die Sanktionen gegen Russland könnte es zudem zu neuen Belastungen in den Lieferketten und auf Transportwegen kommen. Entsprechend hat sich der Konjunkturausblick eingetrübt. 

Auf der positiven Seite sollte sich, trotz verbleibender Unsicherheiten im Umgang mit der Pandemie, in vielen Ländern eine dynamische Nachfrage nach Dienstleistungen im Bereich Freizeitgestaltung und Reisen entfalten. In der Summe ist auf Sicht der nächsten Monate eine weltweite Wachstumsverlangsamung, aber noch keine Rezession zu erwarten. Dies gilt auch für Europa, trotz einer deutlich stärkeren Verflechtung mit Russland und der Ukraine. 

Eine Wachstumsverlangsamung sollte auch das Gewinnwachstum in Richtung Stagnation schmälern. Eine Gewinnrezession ist damit keine ausgemachte Sache, auch für Europa nicht, unter anderem aufgrund des ausgleichenden Effekts steigender Gewinne in Energie- und Rohstoffsektoren.

Dr. Hans-Jörg Naumer
Dr. Hans-Jörg Naumer
Leiter Kapitalmarktanalyse bei Allianz Global Investors

Wie bewerten Sie den Kurs insbesondere der Geldpolitik? 

Höhere Inflation und gestiegene Abwärtsrisiken für die Konjunktur bringen die Zentralbanken in eine Zwickmühle. Sowohl die Europäische Zentralbank als auch die Federal Reserve haben sich in den letzten Wochen zumindest verbal auf die Seite der Inflationsbekämpfung geschlagen. Beide Zentralbanken waren aber bis zuletzt sehr expansiv unterwegs, weshalb sie nun zügig und kräftig gegensteuern müssen – ein schwieriger Drahtseilakt. Der Weg zu einer nachhaltig inflationsdämpfenden Geldpolitik mit Zinsen über einem neutralen Niveau – für die USA wird dies beispielsweise bei etwa 2,5 % angenommen – ist weit. Da scheint die US-Zentralbank einen deutlich klareren Kurs zu fahren, wohingegen die Europäische Zentralbank eher zögerlich auftritt. Dabei müsste sie gerade jetzt die steigenden Inflationssorgen brechen.

Blicken wir auf die Kapitalmärkte. Mit welchen Entwicklungen rechnen Sie? 

Auf der technischen Seite haben die großen Aktienmärkte durch die Kursrückgänge an Bodenhaftung gewonnen, wie unser ‚Schwerelosigkeitsindikator‘ zeigt, der das Kurs-Gewinn-Verhältnis auf Basis der für die nächsten zwölf Monate erwarteten Gewinne in Relation mit der Volatilität setzt. Gleichzeitig zeigen die Relative-Stärke-Indikatoren, trotz der zwischenzeitlichen Erholungen an den Aktienmärkten, eine tendenziell überverkaufte Lage an, was vor allem in eine Phase positiver Nachrichten hinein stützend oder sogar beflügelnd wirken dürfte. Am Ende sind es die harten Fakten, und vor allem Meldungen über Fortschritte in der Ukraine, welche eine Trendwende herbeiführen könnten. 

Also auch ein Hoffnungsschimmer für die Börsen? 

Die Realzinsen, also die Zinsen abzüglich der derzeit hohen Inflationsraten, dürften noch auf längere Sicht negativ bleiben. Sachwerte wie Aktien sollten also trotz eines herausfordernden Umfelds mittelfristig gegenüber nominalen Vermögensklassen wie Staatsanleihen attraktiv bleiben. 

Wie sollten Anleger jetzt reagieren? 

Ich glaube, das Einzige, was man jetzt falsch machen kann, ist, dass man überreagiert. Ich habe mal in die Historie gesehen und für einige Indizes errechnet, was passiert ist, wenn jemand 25 Jahre im Index investiert war und die 20 besten Tage verpasst hat. Im DAX hat er eine Durchschnittsrendite von etwa einem Prozent pro Jahr erzielt. Hat er die besten 40 Tage verpasst, lag die Durchschnittsrendite bei -3 % pro Jahr. Ist er aber durchgehend investiert geblieben, wurden im Durchschnitt 7 % pro Jahr erzielt. 

Klar ist: Nach vorne schauend wird es unruhig, volatil bleiben. Das ist für mich ein guter Zeitpunkt, das Portfolio zu überprüfen. Wie bin ich für die Zukunft aufgestellt? Habe ich Nachhaltigkeit im Portfolio? Und bin ich bei der Nachhaltigkeit auch in den Segmenten drin, die nach vorne geblickt auch gewinnen dürften? Auf jeden Fall ist es wahrscheinlich die falsche Strategie, jetzt die Reißleine zu ziehen.

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